II Leben »nach« dem Tod ?

 

»Noch vieles hätte ich euch zu sagen,
aber ihr könnt es jetzt noch nicht ertragen.«
(Joh 16, 12)
 
 
 

Jesus und die ewige Welle von Tod und Wiedergeburt
 

Im Bewußtsein Israels war der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs fast schon tot.
Und genau da ist er in Jesus zu neuem Leben erwacht. Und von Jesus strahlte dieses neue Leben aus in die ganze Welt. Jesus brauchte dafür weder Argumente noch Maßnahmen - und auch »Wunder« brauchte es nicht dafür! Es geschah vielmehr, weil er vollkommen solidarisch war mit jedem, der ihm begegnete. Das hat alle unmittelbar berührt. Die Fachleute waren bestürzt und sie verschlossen sich, denn ihrer Autorität fehlte der lebendige Beweis, den Jesus erbrachte. Aber die, denen die enge Auslegung des Gesetzes bereits die Luft abschnürte, ließen sich von ihm befreien und sie wurden verwandelt. In seiner Gegenwart entdeckten sie ihre eigene Menschlichkeit und Originalität. Sie konnten den Geist wieder spüren und die spontane Bewegung, die von ihm kommt. Sie waren wie neu geboren. Und so ist es ganz natürlich, daß sie in ihm den Erlöser sahen.
Andere aber waren zu verstrickt in ihre Welt. Sie hatten JAHWE, den Kern ihres Wesens, unwiderruflich ins »Jenseits« projiziert - und Jesus hielten sie für einen Gotteslästerer, weil für ihn das Reich Gottes bereits da war.

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Diese Gruppe aber gab den Ton an in jener Zeit. Und damit befand sich das »auserwählte Volk« als Ganzes in einer verfahrenen Lage.
Es war nicht das erste Mal, daß das geschah. Der Glaube der Väter war schon öfter zum Buchstaben erstarrt. Und immer wenn die Erfahrung des lebendigen Gottes schwand, zerbrach auch die Einheit des Volkes in ein Gewirr gegensätzlicher religiöser und politischer Vorstellungen. Spontane Menschlichkeit konnte sich da nicht mehr durchsetzen. Aber ohne das natürliche Miteinander verloren die Israeliten die Kraft, sich abzugrenzen und selbständig zu leben. Und damit verloren sie auch ihre politische Unabhängigkeit. Jedes Mal, wenn ihr Gott nur noch eine Idee war, gerieten sie in Not und sie erlagen den Angriffen äußerer und innerer Feinde.
Aber immer wenn die Not dann da war, kehrte sich der Prozeß um. Aus der Verzweiflung tauchten Lösungen auf und die Kraft, sie umzusetzen. Propheten erhoben sich und erinnerten die Menschen an ihren Bund mit JAHWE und daß nur darin die Lösung liegen kann. Und das Volk erinnerte sich, daß es um die Hingabe geht. Es erneuerte seinen Bund und die volle Kraft kehrte zurück.
So auch zur Zeit Jesu: Die ewige Welle zwischen Entfremdung und Erlösung hatte wieder den Punkt erreicht, an dem die Umkehr kommen muß. Und da brachte die ewige, jenseitige Natur aus dem morschen Stamm einen frischen Trieb hervor: Jesus - genau wie der Prophet Jesaja es vorhergesagt hatte.
Jesaja hat diesen Prozeß der stetigen Erneuerung beobachtet, siebenhundert Jahre vor dieser Zeit, als das Reich des Königs David endgültig zerbrach. Er sah, daß sich der wahre Mensch immer wieder zeigt - waren die Menschen doch von Ewigkeit her geschaffen nach Gottes Bild!
Aus diesem Wissen heraus konnte er den Messias ankündigen, den »Immanuel«, den »Gott mit uns« (Jes 7,14) »aus dem Stumpf Isai's« (Jes 11,1).

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Die Christen sind es gewohnt, seine Weissagung ausschließlich auf Jesus zu beziehen, aber sie betrifft natürlich nicht nur ihn, denn der »Immanuel« kommt immer wieder, und zwar überall, wo es Menschen gibt, denn alle sind ja geschaffen »nach Gottes Bild«.
Die ganze Bibel bezeugt das. Sie besteht ja fast ausschließlich aus Berichten und Gleichnissen über die ewige Wiederkehr der Erlösung, denn wie in einer ewig wiederkehrenden, unaufhaltsamen kosmischen Welle wiederholt sich in der Geschichte stets der gleiche archetypische Vorgang:
Es beginnt in der Einheit mit JAHWE, in der harmonischen Beziehung zum Ewigen, im Paradies. Dann kommt die Versuchung, die verführerische Idee, das Leben mit Hilfe der Konzepte »gut« und »schlecht« noch besser steuern zu können. Das scheint zunächst zu funktionieren, aber die Konzepte verdrängen die ursprüngliche Führung durch den Geist, bis diese Führung kaum noch wahrgenommen werden kann. Kollektive Entfremdung und Not sind die Folge - die »Strafe«. Nun helfen die Konzepte (die fremden Götter) nicht mehr. Die Menschen rufen um Hilfe zu dem ihnen unbekannt gewordenen Gott. Sie besinnen sich auf ihren Ursprung. Und da entdecken sie ihre Natur und in ihr den lebendigen Gott, JAHWE. Sie kehren um und erfahren die Rettung. Auferweckt und eins mit dem Geist leben sie in Wohlstand und Frieden. Durch Gewohnheit und Achtlosigkeit aber taucht erneut die Versuchung auf, das Leben durch Ideen zu steuern. Neue Konzepte gewinnen Macht über das Leben. Entfremdung setzt ein - usw..
Mit Jesus war diese Welle wieder an ihren Ausgangspunkt zurückgekehrt, aber zum Stillstand ist sie auch durch ihn nicht gekommen. Auch die historische Bewegung, die von ihm ausgegangen ist, ist dem Verfall unterworfen, denn das ständige, rhythmische Pulsieren zwischen Tod und Auferstehung ist überall und seit je her da: Genau besehen ist es das »Zittern des göttlichen Atems über der Urflut« (Gen 1,2), die ewige Bewegung des Geists.

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Alle Maßnahmen, die getroffen wurden, um die Wiederkehr der Entfremdung zu vermeiden (dogmatische Formulierungen, Kodifizierungen, Institutionalisierungen, Inquisition, Ketzerprozesse usw.), konnten den Prozeß nicht aufhalten, im Gegenteil! Sind die ursprünglichen Formen noch echte Früchte vom Baum des Lebens, spontan und vom Geist initiiert - so stammen die späteren Maßnahmen zu ihrer Durchsetzung von »Ich«-Interessen, Angst, Mißtrauen, Unglauben. Keine Spur mehr davon, daß Jesus den Vater im Geist und in der Wahrheit angebetet wissen wollte und nicht hier oder dort oder so oder so. Und so hat die frohe Botschaft vom >Gott mit uns< durch den (angeblichen) Versuch, die Wahrheit und den Geist zu bewahren, die unmenschlichsten Formen angenommen.
Jesus hat das vorhergesehen. Er hat gewarnt vor dem Versuch, die Wahrheit und den Geist festzuhalten, weil sie flüchtig sind »wie der Wind« (Joh 3, 8). Aber seine Warnung war vergeblich.

Global gesehen ist die Wiederkehr der Entfremdung unvermeidlich. Solange wir die Neugeburt aus dem Geist noch nicht erlebt haben, versuchen wir ja fast automatisch, die auf die Auflösung unserer »Ich«-Welt drängenden religiösen Bilder an unsere Vorstellungen anzupassen.
Für die Illusion, wir könnten dem Übel durch Berechnung und Anstrengung entkommen, deuten wir alles um; was wir wahrnehmen genauso wie die religiösen Symbole, sogar den Tod Jesu, die Auferstehungserlebnisse seiner Schüler und sein Vermächtnis in den Sakramenten. Was uns erschüttern sollte, heben wir empor in eine jenseitige Sphäre und von dort aus verarbeiten wir es unbemerkt weiter zu einer bloßen Theorie oder zu einem unglaublichen Märchen. So kann uns die Religion schließlich sogar helfen, das System zu untermauern, das uns seit dem Sündenfall steuert.
Daher hatten Propheten immer schon darunter zu leiden, daß sich ihre Zeitgenossen hinter einer religiösen Fassade verschanz-

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ten, und daß das, was sie »Gottesdienst« nannten, den Geist nicht mehr hervorrief, sondern abtötete. Von Zeit zu Zeit unterliegen ganze Völker derartigen Selbsttäuschungen. Und dann nehmen Spaltung und Entfremdung zu bis der Schmerz zu groß wird, bis die ewige Welle von Verfall und Wiedergeburt wieder den unteren Wendepunkt erreicht, bis ein neuer Erlöser erscheint.
 
 



Eine alleinseligmachende Doktrin?
»Du sollst dir kein Bild machen ...« (Ex 20,4)

 

Obwohl es zweifellos Umstände gibt, unter denen die Lehre von der allein-selig-machenden Religion berechtigt ist, weil ein ganzer Kulturkreis darin Frieden finden kann, daß es keine Wahlmöglichkeit gibt - aber in unsere pluralistische Kultur paßt diese Doktrin nicht. Es gibt die Wahlmöglichkeit nun einmal.
Und dennoch ist dieser Anspruch, den das Christentum und andere Religionen erheben, grundsätzlich richtig - sofern Menschen auf dem Weg dieser Religionen wirklich zurückfinden zur Unschuld.
Es wird nur immer wieder vergessen, daß nicht die Religion die Umkehr bewirkt, sondern der Mensch aus dem Ewigen (der »Menschensohn«), der in uns erscheinen möchte. Die Umkehr kommt, weil das Menschliche nicht auf Dauer unterdrückt werden kann. Es zeigt sich in jeder Kultur und in jedem Menschen immer wieder und in Einzelnen erscheint es ganz rein.
Jesus war so einer, in dem der Mensch aus dem Ewigen erschienen ist. Die Erscheinung war so klar, daß in ihm »der« Menschensohn, ja sogar »die Güte und die Menschenfreundlichkeit Gottes« gesehen wurde. Und deshalb drängt sein Beispiel alle, die ihn kennen, dazu, ihren eigenen Ursprung im Ewigen wiederzuentdecken.

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Aber Jesus ist nicht der einzige, in dem der »Menschensohn« erschienen ist. Auch andere sind ganze Kinder Gottes, auch durch sie kommt der Geist. Schon vor Jesus gab es sie und nach ihm ist es nicht anders. Jesus ist weder der erste Erlöser, noch der letzte, denn die Welt steht nicht still. Es ist seit je her immer wieder nötig, zum Ursprung zurückzukehren. Die Menschheitsgeschichte verläuft nicht als heilsgeschichtliche Einbahnstraße von der Ursünde zur Erlösung, sondern im pulsierenden Rhythmus von Tod und Auferstehung.
All das können die Christen zugeben, ohne daß es der Bedeutung Jesu den geringsten Abbruch tut - auch nicht was seine göttliche Natur und seine Einzigartigkeit betrifft - denn er bleibt der Erste und der Letzte, das Alpha und das Omega, für alle, denen durch ihn die Möglichkeit der Umkehr zum Bewußtsein kommt.
Im Lauf der Geschichte hat es viele Linien dieser Bewegung zwischen Einheit und Entfremdung gegeben. Es sind die Linien der Kulturen und deren Religionen. Alle sind aus einer Rückkehr zum Ursprung entstanden, aber nicht alle haben überlebt. Manche dieser Linien sind erstarrt. Die Tradition diente nicht mehr dem Geist. Sie hatte ausgedient.
Auch die christliche Tradition hat heute für viele ausgedient. Weil sie den Geist in ihr nicht mehr spüren können, suchen inzwischen Unzählige bei anderen Traditionen nach Erleuchtung.
Und sie finden die Erleuchtung auch - letztlich aber nicht in der äußeren Form irgendeiner Religion, sondern in der Hingabe, denn im Kern der (menschlichen) Natur gibt es nur ein Bestreben: Eins zu werden mit dem Ewigen. Aus diesem Grund machen sich die Buddhisten leer, deshalb stimmen sich die Chinesen auf das »Tao« ein und deshalb sagt Augustinus: »Unruhig ist unser Herz - bis es ruht in dir!« Immer und überall geht es um den Zustand, in dem das »Ich« sich nicht mehr separiert, um den Zustand der Hingabe. Und dieser Zustand ist das einzige »Allein-Seligmachende«. Da erscheint der »Menschen-

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sohn« und da erfährt sich jeder Mensch als das (einzig) geliebte Kind Gottes: »Du bist mein geliebter Sohn ...« (Mk 1,11). Die Christen haben zwar recht, wenn sie meinen, sie hätten den allein selig machenden Weg zur Hingabe, aber die Moslems glauben das gleiche mit dem gleichen Recht. Auch der Islam ist ja keine willkürliche menschliche Erfindung. Mohammed war eben ein Mann der Hingabe, ein echtes Medium für den Willen des Ganzen. Weil er ihm kein »Ich« entgegensetzte, konnte der Geist durch ihn eine adäquate Antwort geben auf die Nöte seines Volkes und seiner Zeit.
In Asien ist es der »Buddha«, der den Weg gefunden hat zum Verlöschen des »Ich« und damit zur Einheit mit allem. In Indien sind es die Gurus. Und die »Naturvölker« haben ihre Medizinmänner und Schamanen.
Alle Kulturen haben immer wieder echte Erlöser hervorgebracht. Und sie alle zeigen gangbare Wege. Und alle, die ihnen wirklich folgen, die sich hingeben, werden erlöst und schließlich selber zu Erlösern.
Historischer und psychologischer Ausgangspunkt der Hingabe und damit einer jeden lebendigen Tradition ist immer und überall die Erfahrung der momentanen Abwesenheit des »Ich«:
Etwas fängt unsere Aufmerksamkeit ein. Das Denken setzt aus. Wir nähern uns, um genauer zu sehen. Und bis wir wieder erkennen, sind wir vorurteilslos und offen für den Geist. Und da erleben wir die Ewigkeit - und darin, unverzerrt, Menschlichkeit, Geborgenheit, Kraft, Identität. So erkannte Mose JAHWE im brennenden Dornbusch und genau so kommen auch wir zu unserer Neugeburt.
Die Propheten aller Kulturen haben das erfahren und sie haben Formen gefunden, in denen ihr sich-Annähern nachvollzogen werden kann. Später allerdings haben sich diese Formen oft verselbständigt und sie wurden von Menschen gebraucht, die den Geist nicht hatten. Und dann konnte die alte Erfahrung darin kaum noch übermittelt werden.

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Das Vertrauen in die eigene Tradition ist deshalb bei vielen erschüttert. Wenn wir aber ernsthaft nach menschlicher Entwicklung und nach der ursprünglichen Kraft suchen, können wir den Geist hinter den alten Formen immer noch aufspüren und dann haben wir den Weg wiederentdeckt, der uns wegführt von Ideologien und von unserer persönlichen Geschichte, hin zu unserer Geist-Natur. Und alle, die sich auf diesem Weg befinden, werden sich irgendwann, ungeachtet ihrer Religion, Nation oder anderer Klassifikationen, in einer einzigen Gemeinschaft finden, im »Frieden der Menschen des Wohlgefallens« (Lk 2,14).
 
 

Der prophezeihte neue Bund

 

Auf dieser Ebene war Jesus. Er folgte keiner Doktrin. Er folgte nur seiner Geist-Natur. Durch sie spürte er zu jeder Zeit genau, was notwendig war. Durch sie sah er, unter anderem, daß das »Volk Gottes« als solches verschlungen zu werden drohte von der so außerordentlich effektiven, politischen und geistigen Macht der Römer.
Die Rückkehr zu einer unabhängigen Theokratie im alten Sinn war nicht mehr möglich. Die erlösende Erneuerung mußte den Rahmen der spezifisch jüdischen Kultur sprengen. Jesus mußte den Schwerpunkt vom Staatlichen, wo Moses ihn gesetzt hatte, auf das Persönliche verlagern. Er mußte das religiöse Gesetz zurückführen auf den menschlichen Grund.
Und genau das hatte sich schon beim Propheten Jeremia angekündigt, der sechshundert Jahre früher in eine ähnliche Situation gekommen war, kurz bevor die Israeliten in die (zweite) Babylonische Gefangenschaft verschleppt wurden.
Schon für Jeremia ist die Erkenntnis JAHWE's nicht mehr gebunden an Kultur oder Religion: Ihr Grund liegt in der menschlichen Natur, die von Ewigkeit her Gott spiegelt. (Jer 31,33f = Hebr 8, l0f):

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Spruch JAHWE's:
Ich lege mein Gesetz in sie hinein und schreibe es auf ihr Herz.
Ich werde ihr Gott sein und sie werden mein Volk sein.
Keiner wird mehr den anderen belehren,
man wird nicht zueinander sagen: Erkennt JAHWE!
sondern sie alle, groß und klein, werden mich erkennen.
Spruch JAHWE's.

Und genau das bestätigt Jesus in seinem Gespräch mit der Samariterin am Jakobsbrunnen (Joh 4,21 - 24):

21 Eine Stunde kommt,
da ihr weder auf diesem Berg noch in Jerusalem
den Vater verehren werdet...
23 Eine Stunde kommt, und jetzt ist sie da,
da die wahren Verehrer
den Vater in Geist und Wahrheit ehren werden;
und der Vater sucht gerade solche Verehrer.
24 Gott ist Geist,
und die ihn ehren,
müssen ihn im Geist und in der Wahrheit ehren.

Das ist der immer neue Bund mit Gott - aber aus diesem ewig neuen Bund ist inzwischen erneut ein alter Bund geworden - paradoxerweise gerade unter Berufung auf die Vision des Jeremia:
Zwar hat der Autor des Hebräerbriefs, der Jeremia zitiert (Hebr 8, 10f.), dessen Feststellung zurecht in Jesus erfüllt gesehen, aber indem er darin gleichzeitig eine Prophezeihung sah für einen spezifischen neuen Bund, der mit Jesus beginnt, konnte sich das von Jesus Gelöste erneut fixieren. Und so ist aus dem »Allgemeinen«, dem »Kat-holischen«, das für die menschliche Natur sprach, wieder etwas Besonderes geworden, schließlich sogar »römisch-katholisch«, genauso speziell wie damals die Höhenheiligtümer der Samariter oder der Tempel in Jerusalem. Die

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Frage der Samariterin ist daher heute genauso aktuell wie damals und ebenso die Antwort Jesu.
Solange die traditionellen religiösen Formen in einer Kultur selbstverständlich gelten, ist diese Frage noch nicht akut. Aber heute sind die Religionen überall auf dem Weg, zu bloßen historischen Kuriositäten zu werden. Ein ungeheurer Reichtum scheint verloren zu gehen. Und gerade da zeigt das letzte Funkeln der vielfältigen Formen die eine universelle Wahrheit, auf die — neben vielen anderen - auch Jeremia und Jesus hingewiesen haben.
Überall, wo es Menschen gibt, haben sie seit je her Wege gefunden zu ein und demselben unsterblichen Ziel: zur inneren Wahrheit, zur Wiedergeburt, zum Geist, zu Gott, zum Tao, ins Nirwana. Wir brauchen uns daher keine Sorgen machen wegen des Verfalls. Solange es Menschen gibt, werden sie immer wieder fähig sein, den Geist und die Wahrheit aufzuspüren.
Heute ist niemand mehr durch seine Tradition gebunden. Jeder kann die Grenzen seiner Kultur überschreiten und den Weg nehmen, auf den sein Schicksal ihn führt zu der einen Wahrheit jenseits der vielfältigen Formen. Die Menschen sind geradezu dazu gezwungen, Gott im Geist und in der Wahrheit anzubeten.
Die Missionierung ist daher zuende. »Keiner wird mehr den ändern belehren und sagen >Erkenne JAHWE!<«. Unsere Natur selbst führt uns zu »ihm« hin.
Und so erfüllen sich heute vielleicht zum ersten Mal die alten Visionen von dem neuen und ewigen, weltweiten Bund mit Gott, in dem es nicht mehr um die Frage geht, wie ein Mensch zur Wiedergeburt aus dem Geist kommt, welche Religion er hat oder welchem Meister er folgt, weil doch alle im Ziel übereinstimmen, nämlich sich ganz dem Leben hinzugeben und sich allein vom Geist bewegen zu lassen.

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Wie das Klischee die heutige Form angenommen hat



Jesus hat seine Schüler zurückgeführt in den einen, ewigen und immer neuen Bund mit Gott, in das Leben »aus dem Geist und aus der Wahrheit«. Und daher lautet die »Frohe Botschaft« des Neuen Testaments:
Die Jesus nachfolgen, werden »erweckt werden« aus einem Zustand der Abgestorbenheit; sie werden »wiedergeboren werden aus dem Geist«; der »Sohn des Menschen« wird in ihnen erscheinen; das Herz wird ihnen aufgehen; sie werden erwachen zu ihrer Ganzheit, zu ihrer Ewigkeit - und daraus werden sie die Einzelheit und das Zeitliche erst wirklich begreifen. Das haben die Apostel erfahren und die späteren Nachfolger Jesu erfahren es immer noch, indem sie ihr Leben aufbauen auf den Glauben an die »Auferstehung«, an die »Ankunft des Menschensohnes«, an die »Wiederkunft Christi«. Schon die Patriarchen und Propheten haben ihr Leben genau darauf begründet. Nur so konnte der Erlöser (der Christus) in ihnen erscheinen. Und nicht anders ist auch Jesus zum Bewußtsein seiner selbst gelangt. In diesem Glauben konnte er die Schwere seines Schicksals annehmen. Und durch diesen Glauben vermochten schließlich auch seine Schüler ihre ängstliche Unterscheidung von »gut« und »schlecht« loszulassen und zurückzukehren zum Baum des Lebens.
Jesus ist den Weg dieses Nicht-Unterscheidens bis ans Ende gegangen und das ist es, was die Menschen seither so stark bewegt. In den historischen Ereignissen seines Lebens ist diese Möglichkeit für alle sichtbar und spürbar geworden. Deshalb haben die Christen diese Ereignisse in ihr Glaubensbekenntnis aufgenommen. Dadurch aber haben sie gleichzeitig die Möglichkeit geschaffen, den Glauben doktrinär zu verstehen als ein Für-wahr-halten historischer Fakten. Doch von dieser Art »Glauben« wird niemand bewegt. Statt dessen verschiebt sich die Erlösungserwartung aus dem Leben hinaus in eine Zeit nach dem physichen Tod.

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Die vorher synonym verwendeten Bilder »Auferstehung«, »Wiederkunft Christi«, »Wiedergeburt aus dem Geist«, »ewiges Leben«, »Himmel«, »Reich Gottes« usw., spalten sich nun voneinander ab. Aus den vielen Unischreibungen für das Erwachen der Gottebenbildlichkeit des Menschen werden verschiedene, quasi materielle Details eines neuen Mythos, denn jeder dieser Ausdrücke bezeichnet nun ein anderes zeitliches Element einer neuen »Eschatologie«. Und so entsteht im landläufigen theologischen Verständnis eine weltgeschichtliche Reihenfolge der im Zuge der Erlösung erwarteten Ereignisse - und die symbolische Bedeutung, d.h. der Hinweis auf konkrete Entwicklungsschritte im eigenen Leben, tritt mehr und mehr in den Hintergrund. Und die Zeichen der Zeit, die Jesus so wichtig waren, werden ganz aus dem Blickfeld verdrängt.
Logischerweise hatte dieses materialistische Bild des Weges ins Jenseits außerdem grausige materielle Folgen: Nun konnte man die Menschen auf Erden sogar quälen und umbringen, um dadurch ihre ewig lang lebende Seele zu retten.
Natürlich haben die Menschen einen Ausweg aus dieser Zwangslage gesucht - und sie haben ihn gefunden in einem Antimythos, in den Wissenschaften, die sie tatsächlich aus den Klauen dieser mörderischen Religion befreite, allerdings um den Preis, daß sich ihre Trennung vom Ewigen noch vertiefte. Heute, nachdem wir die brutalen historischen Folgen des religiösen Materialismus nicht mehr unmittelbar zu spüren bekommen, sondern statt dessen die der wissenschaftlichen Industrialisierung, bleibt auf der christlichen Religion dennoch noch etwas von dem Makel dieser abscheulichen Verirrung. Und die Eschatologie (das auch heute noch als gültig betrachtete Ergebnis des damaligen Umdeutungsprozesses) erscheint dadurch für einen naiven Betrachter aus unserer Zeit geradezu irre komisch:
 

Die volkstümliche Vorstellung über die Erlösung und über die »Letzten Dinge« ist ja heute noch ungefähr so:

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Bei der Schöpfung war alles noch gut. Aber dann kam die Geschichte mit dem verbotenen Apfel, dessentwegen die Menschen von Gott aus dem Paradies hinausgeworfen wurden. Warum das so schlimm gewesen sein soll, versteht keiner, aber alle glauben, daß die Menschen von da an mit einem schwarzen Fleck auf ihrer Seele geboren werden, mit der Erbsünde. Sie muß abgewaschen werden. Das geschieht in der Taufe. Aber es hilft nichts.
Neue schwarze Flecken kommen: die persönlichen Sünden. Für die braucht es die anderen Sakramente, immer wieder, schließlich aber ebenso erfolglos, weil die Menschen immer wieder sündigen, bis endlich der Tod kommt. Aber auch der bringt noch keine Erlösung.
Während der Körper in der Erde zerfällt, schwebt die Seele ins Jenseits. Dort wird sie gleich anschließend vor ein sogenanntes »persönliches Gericht« gestellt - im Unterschied zum späteren »jüngsten Gericht« - und in den meisten Fällen zu einer langjährigen Verbannung ins Fegefeuer verurteilt. Durch besondere Gebete, Übungen und Zahlungen kann man bereits zu Lebzeiten ein Strafnachlaßguthaben im Jenseits anlegen und so Tausende von Tagen Strafe nachgelassen bekommen und man kann dieses Guthaben auch anderen zugute kommen lassen. Nach Abbüßung der Sündenstrafen erfolgt die, zunächst nur zeitweilige, Überstellung in den Himmel - denn nach einiger Zeit dort kommt das Schicksal des Planeten Erde an sein Ende. Die Welt geht unter. Aber zuvor kommen die angekündigten Katastrophen, die der Wiederkunft Christi vorausgehen. Dann erscheint Jesus auf den Wolken. Abschließend gibt es eine Sonnenfinsternis und die Sterne fallen aus dem Weltraum auf die Erde.
Dann werden die Toten auferweckt, d.h. die nackten Seelen werden wieder mit ihrem Körper bekleidet. Dann erschallen Posaunen und Jesus hält von einer Wolke aus eine Ansprache an alle. Mit ihr beginnt das jüngste Gericht, vor dem sich alle Menschen, die je gelebt haben, jetzt

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nocheinmal verantworten müssen. Zum Abschluß der Verhandlung spricht Jesus das Urteil und er vollstreckt es sofort:
Himmel oder Hölle.
Wo man zugeteilt wird, was davon abhängt, ob man brav gewesen ist oder nicht, bleibt man für den Rest der Ewigkeit — nein, noch nicht, denn ...
Vorher wird durch ein neues Machtwort Gottes ein neuer Himmel und eine neue Erde geschaffen, und die neue Erde wird von all den wiederbelebten Leichen der Guten der Geschichte bevölkert, die dann fortan in alle Ewigkeit in einem unveränderlichen Zustand der Glückseligkeit dort »leben« dürfen.
Tiere und Pflanzen sind nicht zugelassen, denn die haben ja keine Seele.
Kein Wunder, daß sich der neu in den Himmel aufgenommene bayerische Dienstmann »Aloisius« dem Suff ergab (in Ludwig Thoma's »Münchener im Himmel«). Unter diesen Umständen konnte ihm ja kein »Hallelujah« über die Lippen kommen!

Es ist wirklich schwer, diese Bilder nicht materialistisch zu verstehen. Deshalb erscheint die historisch gewachsene christliche Eschatologie vielen heutigen Menschen wie eine Wahn- Welt aus dem finsteren Mittelalter.
Bei wohlwollender Betrachtung allerdings ist auch in diesen Vorstellungen vom »Jenseits« eine tiefe Bedeutung zu finden. Selbst erklärte »Materialisten« können ihre archetypische Symbolik verstehen. Und so kann sogar diese seltsame Glaubenslehre wieder wirklich »kat-holisch« werden, d.h. für jeden annehmbar:
Das »Essen vom Baum der Erkenntnis des Guten und des Schlechten«, die Ur-»Sünde«, ist offensichtlich eine Folge der Entwicklung der Fähigkeit zu denken. Irgendwann kamen die Menschen auf die Idee, sie könnten ihr Erfahrungswissen benützen, um das Unangenehme aus ihrem Leben auszuschalten. Dazu mußten sie die ursprüngliche (nicht konzeptionell unter-

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scheidende) Geist/Instinkt-Steuerung ersetzen durch eine konzeptionelle »Ich«-Steuerung. Aber sie bedachten nicht, daß sich dadurch das »Ich« vom Ganzen separiert und daß sich dieses »Ich« von da an selber um alles kümmern muß - und daß es das Unangenehme letztlich doch nicht vermeiden kann, weil ihm einige entscheidende Informationen fehlen. Anstatt das unaufhörliche Glück zu erreichen, verurteilen sich die der Versuchung erlegenen, »klug gewordenen« Menschen daher selbst zur unaufhörlichen »Sisyphus-Arbeit«.
Die Menschen sind aber so fasziniert davon, daß ihre Maßnahmen im Detail funktionieren, daß sie gar nicht bemerken, daß es sich eigentlich, im Ganzen betrachtet, um einen Fehlschlag handelt: Sie verlängern ihr Leben tatsächlich, aber sie leben gar nicht. Sie erleichtern sich die Arbeit durch die Technik tatsächlich, aber die technisierten Menschen arbeiten mehr als die Menschen der Steinzeit - von den Folgen der Künstlichkeit ihrer Arbeits- und Lebensbedingungen ganz zu schweigen. Die Realität verschwindet hinter dem Funkeln der Machbarkeit. Und so halten die Menschen bis heute fest an der Illusion, sie könnten das Unangenehme vermeiden, und sie vererben ihre beschränkenden, spaltenden, Unzufriedenheit erzeugenden Konzepte weiter an ihre Nachkommen und sorgen somit dafür, daß auch sie diese Vorstellungen (ihr »Ich«) über den Geist des Ganzen stellen.
Aber irgendwann begegnen die an ihrer Sisyphus-Arbeit leidenden Menschen selbstlosen, erlösten Menschen. Sie spüren deren Ausstrahlung von Ruhe und Zufriedenheit und sie lassen sich bekehren und taufen, denn in der Taufe, so erfahren sie, wird der Grund des Leidens abgewaschen: Die Illusion der Ursünde wird untergetaucht, das separate »Ich« stirbt - und das Eigentliche im Menschen erwacht, es wird erlöst, wiedergeboren aus dem Geist; und der Wiedergeborene erkennt als sein wahres Ich JAHWE, den Geist des Gesamten. Und weil er das jetzt wirklich begriffen hat, ist er frei von der Erbsünde und zurückgekehrt ins Paradies. Er unterscheidet jetzt nicht mehr zwischen »gut« und

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»schlecht«, sondern er fügt sich in seine Rolle als Sohn, der sich führen läßt vom Geist.
Aber in vielen Fällen ist der Prozeß der Wiedergeburt mit der Taufe noch nicht abgeschlossen. Die Taufe krönt zwar das Umkehrerlebnis, aber das »Ich« ist hartnäckig. Rückfälle folgen. Ja eine neuerliche Ver-Dammung droht noch immer. Die Sakramente dienen daher der Erinnerung an das Umkehrerlebnis und der Wiedervereinigung. Sie erinnern immer wieder an den Archetyp des erlösten Menschen, Jesus, der ganz eins geworden ist mit dem »Vater«. Weil aber »das Fleisch schwach ist«, wird die Verbindung mit dem Geist immer wieder unterbrochen und sie muß so lange immer neu hergestellt werden, bis die Achtsamkeit ganz auf sie eingestellt ist, wie bei Jesus.
Der Prozeß, in dem das geschieht, ist das (persönliche) Gericht. In einer Serie persönlicher Krisen entdeckt der Mensch, daß er immer noch nicht eins ist mit der Wahrheit und als Konsequenz erfährt er den zur Kurskorrektur drängenden Schmerz (das Fegefeuer).
Und im letzten (»jüngsten«) Gericht erlebt er die Wiederkunft Christi. Zuletzt offenbart sich seine im Ewigen wurzelnde Natur unmißverständlich und unwiderruflich. Das letzte Gericht kommt spätestens im Tod. In ihm wird das sich separierende »Ich« vernichtet, entweder weil die Verbindung des Menschen mit der einen natürlichen, schöpferischen Intelligenz schon so stark ist, daß er sein »Ich« von alleine hingibt, oder, weil dieses »Ich« angesichts der Wahrheit brennen muß im Widerspruch, bis es sich auflöst - und wenn das »ewig« dauert - weil sich die Einheit mit dem Ganzen am Ende doch nicht verhindern läßt. Am Ende gibt es nur diesen einen Ausweg: Hingabe. Aber es ist nicht Gott, der den Menschen »verdammt« - sein »Ich« ver-damm-t sich selbst.
Auch die Aussage, daß das Schicksal der Verstorbenen beeinflußt werden kann, ist korrekt. Die wichtigste Rolle im Sterben spielt zwar das Bewußtsein, das wir zu Lebzeiten erreicht haben,

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aber auch unsere Lieben können hier noch Einfluß nehmen. Das bestätigen ehemals klinisch Tote.
Und noch eine weitere Einwirkungsmöglichkeit werden sogar Materialisten anerkennen: Das Schicksal der Verstorbenen ist ja ein Teil unseres eigenen Schicksals, ein wirklich »jenseitiger« Teil. Unsere Toten leben in uns fort - und nicht selten spuken sie in uns, bis wir sie erlöst haben in uns. Erlösen können wir sie aber nur, wenn wir den Anteil unserer Erbsünde (unseres »Ich«, unseres »Karma«), der von ihnen kommt, überwinden. Und so ist es auch in dieser Hinsicht tatsächlich möglich, Verdienste zu sammeln, um die Leidenszeit der Verstorbenen zu verkürzen, und damit gleichzeitig auch unsere eigene.
Und dann kommt das Weltende mit dem Jüngsten Tag. Auch das kommt wirklich. Und wie es für den Einzelnen spätestens im Tod geschieht, wenn die »Ich«-Welt nicht schon vorher zerbricht, so für die (menschliche) Welt als Ganzes in Form der ökologischen Katastrophe, auf die die Aktivitäten des »Ich« weltpolitisch zusteuern und die tatsächlich eintreten wird, wenn es nicht zu einer weltweiten Besinnung kommt.
In erster Linie aber bedeutet das »Weltende« den Zusammenbruch »dieser« Welt, also den Zusammenbruch der Unterscheidung von »gut« und »schlecht«.
Die Katastrophen, die dem Weltende vorausgehen, sind Teilzusammenbrüche der Illusionswelt. Aber das »Ich« versteht die Zeichen nicht - denken wir nur an die Plagen in Ägypten vor dem Auszug der Israeliten, die den »Pharao« bis zuletzt nicht zur Einsicht geführt haben. Oft gibt das »Ich« sein Beurteilen nicht auf bis sich schließlich der Mond verfinstert, bis die Sonne aufhört zu scheinen und bis die Sterne vom Himmel fallen, d.h. bis jede Orientierung versagt, weil sogar die Träume aufhören, das Tageslicht erlischt und alle Vorbilder zerschellen.
Dann, wenn die »Ich«-Welt verloren ist, kommt der »Christus«, der Erlöser; da kommt unsere im Ewigen gründende, geist-liche Natur zum Vorschein, »in Wolken«, also aus dem Nebel des Nichtwissens. Und sie ruft zum letzten Gericht: Entweder wird

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sie in uns durchdringen und offenbar werden oder wir gehen in den Tod »auf ewig«, denn am Ende kann keiner seine Natur verleugnen.

Weil der »Dienstmann Aloisius« das nicht verstanden hat (weil es möglicherweise sein ganzer Kulturkreis schon längst nicht mehr verstanden hat), konnte er sich den Himmel und das »Hallelujah- Singen« nicht vorstellen.
Aber wenn der Christus, der Erlöser, nach dem Tod unseres »Ich« m uns erwacht, haben wir wirklich allen Grund zu jubeln, denn dann sind wir in Harmonie. Unser Körper und die ganze Erde ist dann für uns verwandelt. Alles ist neu und wunderbar und heil. Und alles wird automatisch gelenkt durch den Geist.
Viele, auch »religiöse« Menschen, können nicht an diese Möglichkeit glauben. Ihre Vor-Stellungen erlauben es ihnen nicht. Wenn sie dennoch am Sinn ihres Lebens nicht verzweifeln wollen, müssen sie annehmen, diesen Sinn auch nach dem Tod noch finden zu können. Und so sehen sie »Himmel« und »Fegefeuer« als die Möglichkeit, nach dem Tod persönlich, d.h. als separates »Ich«, im »Jenseits« weiter-leben zu können.
Es ist zwar mehr als naiv zu glauben, ein sich separarierendes »Ich« könnte der Begegnung mit Gott standhalten - aber gerade weil sie das so gerne glauben möchten, können sich die Christen mit den Anhängern anderer Religionen treffen, die auch Vorstellungen über ein »Leben nach dem Tod« entwickelt haben. Weil sie sehen, wie schwer es für einen Menschen ist, sich von seiner »Ich«-Welt zu lösen, sagen sie, daß jeder Mensch so lange immer wieder auf der Erde geboren werden muß, bis er die vollkommene Hingabe (die Auflösung des sich separierenden »Ich«) erreicht hat. Wenn wir genau hinsehen, verschwindet der Widerspruch zwischen diesen beiden Glaubensrichtungen, denn wer möchte Gott Vorschriften darüber machen, wie er das Fegefeuer gestaltet, also ob es nicht in einer Kette von Wiedergeburten besteht - die sich wiederum natürlich auch in einem

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einzigen Leben oder sogar im Prozeß des Sterbens selbst ereignen können.
Eines bleibt in jedem Fall klar: Es gibt kein Entkommen für das separate »Ich«! Am Ende bleibt nur die Hingabe — und dann ist alles gut.
Und auch da können wieder alle zustimmen, sogar erklärte Materialisten. Auch sie spüren ja in sich die Sehnsucht nach Hingabe, Frieden und Vollkommenheit und die Gefahr, daß der lebendige Kern unter der Willkürherrschaft des »Ich« die Lust an diesem Leben verliert und das Selbstzerstörungsprogramm einleitet. Auch für sie ist es daher vorteilhaft, zu sehen, daß es der Geist (des Ganzen) ist, der sie drängt, die Entscheidung zur Hingabe nicht länger aufzuschieben. Und damit erübrigen sich alle weiteren theologischen oder ideologischen Spekulationen.
 
 

Der Ursprung der Idee

 

Die Idee des »Weiterlebens nach dem Tod« existiert in der Bibel nicht von Anfang an. Im Gegenteil, diese Idee setzt eine Auffassung des Lebens und des Todes voraus, die der Bibel fremd ist:
Im Paradies, d.h. für den Menschen, der in Harmonie lebt, existiert der Tod nicht. Der Tod ist erst »der Sold der Sünde« (Röm 6, 23).
In Frage steht natürlich nicht die Tatsache des Sterbens, sondern seine Bedeutung: Der Abgrund, der sich im Angesicht des Todes auftut vor dem »Ich«, das sich abgespalten hat von dem einen Geist, der Schrecken, der in einen Menschen fährt, wenn ihm bewußt wird, daß der Tod für die Vorstellungswelt seines »Ich« eine unüberwindliche Grenze darstellt.
Der »sündige«, d.h. der vom Ganzen abgesonderte Mensch identifiziert sich mit seinem separaten »Ich«. Deshalb hat er Angst vor dem Tod. Er sieht nicht, daß dieses »Ich« ohnehin

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»sterben«, also sich wieder ins Ganze integrieren muß, wenn das Paradies wiederkehren soll.
Bei den Autoren der Bibel ist das bereits geschehen. Daher sagen sie den gespaltenen, »Ich«-bezogenen Menschen, daß es nur ein wirkliches Ich gibt, nämlich JAHWE. Und die Menschen, die das nachvollziehen können, die sich erlauben können, JAHWE wirklich als ihr Ich zu erfahren, separieren sich nicht mehr von ihrem göttlichen Kern. Sie sind eins mit den Bewegungen des Geists im Leben und im Sterben, und der Tod ist kein Problem für sie. Die Frage nach einem subjektiven »Weiter«-Leben nach dem Tod taucht für sie gar nicht mehr auf, weil sie sich ja zu jeder Zeit mit ihrer Lebensquelle verbunden wissen. Und so endet das Subjektive des menschlichen Lebens in der biblischen Tradition bis etwa hundert Jahre vor Jesus ganz selbstverständlich »in der Grube«.
Der Gedanke vom »Weiter«-Leben nach dem Tod entspringt also nicht in der Urerfahrung JAHWE's, sondern erst im Kopf der Menschen, denen ihre eigene Natur fremd geworden ist und die keine Aussicht sehen, sie zu Lebzeiten wiederzufinden, weil sie, trotz Glaubenslehren und heiliger Schriften, nicht mehr wissen, was ihnen fehlt.
 
 


Erlösung und neuer Sündenfall



Am Anfang wurden die Menschen durch ihr Spüren gelenkt. Auch bei den heutigen Menschen ist das natürlich noch so. Im Spüren waren sie unmittelbar verbunden mit der schöpferischen Kraft und mit allem in der Welt. Sie lebten im Paradies und brauchten keine Religion. Aber dann gerieten sie in Versuchung - die meisten Menschen unseres Kulturkreises würden eher sagen, sie entdeckten die Fähigkeit - sich von Erinnerungen an gute und schlechte Erfahrungen leiten zu lassen. Sie entwickelten ein neues, ein konzeptionelles Steuerungssystem - und das war der »Sündenfall«.

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Indem sie sich nämlich immer mehr mit ihren Konzepten und Berechnungen identifizierten, entfernten sie sich immer weiter von ihrem Spüren, bis der unmittelbare Kontakt zu ihrer Natur (und auch zu ihrer Umwelt) abgebrochen war. Sie konnten jetzt zwar sehr viel leisten - aber ein Leben aus Berechnung, ohne Gespür, ist schwer und hart. Das Paradies war verloren. Die Menschen selbst aber waren nicht verloren, denn auch jetzt noch wurde und wird alles in der Welt gelenkt vom spürenden Geist — und in seiner Tiefe nimmt jeder Mensch diese Lenkung wahr. Und wer wirklich nach einem Ausweg aus seiner Entfremdung sucht, findet daher die Antwort aufsein Leiden stets — in sich selbst. Die Quelle der Offenbarung ist jederzeit zugänglich; sie ist zu keiner Zeit verdeckt. Deshalb gebraucht Jesus das Bild vom liebenden Vater. Und deshalb sprechen die Zen-Patriarchen vom »torlosen Tor«.
Und deshalb kommt auch von außen Hilfe: Denn einige der Menschen, die die Entfremdung erfahren haben - sie werden später »Propheten« oder »Meister« genannt — leben diesen Such-und Finde-Prozeß exemplarisch vor. Auch ihr Weg beginnt in der Entfremdung. Ihr Leiden zwingt sie, sich von ihren Vorurteilen zu lösen. Eine unstillbare innere Sehnsucht spricht zu ihnen von einer anderen, wahren Identität. Etwas drängt sie, Abstand zu gewinnen von den Identifikationen, die ihr »Ich« ausmachen, und auf die Wahrheit jetzt zu achten. Und nach und nach lichten sich die Schleier ihrer Wahrnehmung, Ärger, Trotz, Einbildung. Sie beginnen zu erwachen. Mehr und mehr vertrauen sie ihren spontanen Eingebungen; nach und nach lösen sie sich von ihren Vorstellungen; und so lösen sich auch ihre Probleme, eines nach dem anderen. Immer öfter wissen sie sich eins mit sich und mit dem Geist, erlöst - von dem Streß, den die Götter des »Ich« immer machen. Und eines Tages schmilzt der letzte Damm und sie haben endgültig zurückgefunden ins Paradies.
Natürlich möchten sie ihre Erfahrung der Erlösung dann mitteilen, aber sie können nicht direkt darüber sprechen, weil die

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entfremdeten Menschen jene andere Welt aus ihrem Bewußtsein verdrängt haben. Deshalb vergären ihre Erfahrungen zu metaphorischen Geschichten, die voll sind mit Symbolen und Anleitungen zu ungewohntem Verhalten. Und davon fühlen sich die Menschen, die in der Entfremdung leben, berührt. Eine seltsame Sehnsucht leuchtet in ihnen auf, nur für Momente zwar vorerst, aber in diesen Momenten beginnt ihnen etwas zu dämmern von einer anderen Identität - von ihrer eigenen Geistnatur. Ihr Leiden an der Entfremdung läßt sich jetzt nicht mehr so leicht ignorieren. Sie beginnen zu fühlen, daß ihr bisheriges »Ich« nur eine Fassade ist. Sie müssen nach dem suchen, was dahinter liegt. Die Mitteilungen der Propheten haben sie auf die Spur gebracht und nun entdecken sie den Geist selbst und in ihm ihre wahre Natur und das wirkliche Leben. Und da sind sie neue Menschen geworden.
Und voll Freude erzählen sie die Geschichten weiter, die den Anstoß zu ihrer Verwandlung gegeben haben. Und eine dritte Generation Erlöster wächst heran und eine vierte und fünfte. Es gibt keine Schwierigkeit, die sich im Geist nicht lösen würde. -Auch wenn sie von Schicksalsschlägen betroffen werden, wissen sie sich eins mit dem Geist; in jeder Lage sind sie zufrieden und stark - sogar noch über ihren Tod hinaus.
Späte Nachkommen aber, die bereits von Anfang an die Früchte der Kraft der Generationen vor ihnen genießen, kennen die Not nicht mehr, die die Entfremdeten bewegt hat - und so werden sie achtlos und die Illusion der Machbarkeit schleicht sich wieder ein.
Die alten Geschichten von der Erlösung werden zwar noch erzählt, aber die Zuhörer fühlen sich nicht mehr betroffen. Was lange selbstverständlich war, wird für die Einen unverbindlich und für die Anderen zu einem Zwang. Die Religion dient nicht mehr als Wegweiser zur Ganzheit, sondern sie wird Teil-Ansicht einer Weltanschauung, Grundgerüst einer neuen »Ich«-Welt.
Aber dieser zweite Sündenfall geschieht im Mantel der »geoffenbarten Wahrheit«. Die Mitglieder der Religion behalten die

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Mythen und Rituale, die die Propheten ihnen gegeben haben aber sie lassen sich von ihnen nicht mehr verändern. Die Religion tritt in die Phase der Heuchelei. Sie wird zu einem Instrument des »Ich«. So glorreich manche Errungenschaften dieser Phase auch sein mögen - die Wahrheit hat sich verdunkelt. Es ist die Zeit des Babylonischen Turms. Es herrscht Sprachverwirrung. Die Vorstellungen über »gut« und »schlecht« sind wieder da und mit ihnen Konkurrenzdenken und Angst. Und so folgt abermals eine Zeit des Leidens. Und abermals durchdringt die Natur die Mauer der Entfremdung mit neuen »Offenbarungen«, d.h. mit neuen Erfahrungen vom Wirken des Geists, die in den symbolischen Bildern dieser neuen Zeit erscheinen. Und wieder werden einige Generationen von Menschen erlöst.
Aber auch die neuen Beispiele zerfallen nach einiger Zeit korrekter und wirksamer Überlieferung und ihre Bilder werden erneut zu ideologischen Fakten. Aus der unmittelbar gespürten Wahrheit wird wieder eine abstrakte Weltanschauung.

Sooft der Geist die Menschen auch zurückführt ins Paradies, das sich vom Geist separierende »Ich« kehrt immer wieder. Und immer wieder verwertet es - solange es nicht die Religion insgesamt über Bord wirft - die spontanen und situationsbezogenen metaphorischen Aussagen der letzten »Offenbarung« und baut sie ein in seine vernünftig berechnende Vorstellungswelt, der bereits die früheren Bilder und Geschichten vom Wirken des Geists einverleibt worden waren.
Ein religionsgeschichtlicher Prozeß kommt so in Gang, in dessen Verlauf hinter die erlösenden Erzählungen gedankliche Konstruktionen treten. Und aus den Gedanken werden Gedankengebäude und intellektuelle Theorien und die Theorien werden verschachtelt zu komplexen Systemen. Und mit jedem Schritt wird es schwerer, dahinter die andere (die nichtentfremdete, ursprüngliche, natürliche, alles einschließende) Welt, von der die Gleichnisse erzählen, wiederzuerkennen und zu erfahren.

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Aber - wenn die Wirklichkeit durch eine Vorstellungswelt verstellt ist, folgt Schmerz und der Schmerz drängt zur Suche nach Erlösung.
 
 


Jesus überwindet die Spaltung von Grund auf



Zur Zeit Jesu war dieser Schmerz unüberhörbar in Israel, aber eine Lösung war nicht in Sicht. Die alten Lösungen des Mose und des David oder bei der Rückkehr aus der babylonischen Gefangenschaft waren mit den Bedingungen der Zeit nicht mehr vereinbar. Eine politische Veränderung war ausgeschlossen. Aber auch die verwandelnde Kraft des religiösen Gesetzes war ausgeschöpft. Die Erneuerung konnte nicht von außen kommen. Die Spaltung mußte von Grund auf überwunden Werden. Die Menschen mußten individuell und unmittelbar die ganze Tiefe ihrer im Ewigen verankerten Natur erfahren.
Als Schlüssel dafür bot sich die Angst vor Leiden und Tod, denn in dieser Angst steckt das ganze Dilemma des Sündenfalls. In ihr kann jeder Mensch die Ur-Versuchung neu erleben und sich neu entscheiden. In ihr wird das ganze unsagbare Leid spürbar, das ausgeht vom »Wissen«, aber auch was es heißt, beim Baum des Lebens zu sein, und daß das die tiefste Sehnsucht eines jeden Menschen ist. Denn unbehindert von den Schranken der Vorstellungswelt reicht das Bewußtsein da bis an den Ursprung der Existenz. Und da ist Vertrauen - für jeden Schritt, über jede Schwelle, sogar über die Schwelle des Todes.
Diejenigen aber, die noch unter dem Baum der Erkenntnis stehen, wissen das nicht. Sie sehen nur: Der Schritt zum Baum des Lebens kostet sie die Kontrolle über das Leben. Und so unterlassen sie den Schritt. Was ihren Eintritt ins Paradies verhindert ist die Angst vor dem, was geschehen könnte, wenn sie die Kontrolle nicht mehr haben. Es ist letztlich die Angst vor dem Tod. Und vom Baum der Erkenntnis kommt nichts, was

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ihnen diese Angst nehmen könnte, im Gegenteil, die Erkenntnis sagt ihnen: Das Loslassen gefährdet alles, was du dir mühsam aufgebaut hast! Um die Todesangst, die gleichzeitig Lebensangst ist, zu überwinden, braucht es daher einen Sprung, eine Bereitschaft zum Risiko, Glauben. Das steht hinter der alten Weisheit »stirb, bevor du stirbst!«
Jesus hatte den Sprung längst getan. Er war schon lange vor seinem Tod gestorben - und neu geboren worden. Und daher hatte er vor nichts und niemand Angst. Und er sah seine Schüler und wußte, daß nur ein Schock sie aus ihrer angstbesetzten Erkenntnis-Welt herausreißen konnte. Der Schock, den sie brauchten, war sein Tod! Und Jesus ging in diesen Tod hinein - obwohl er wußte, daß sein an Zeit und Raum gebundenes, persönliches Bewußtsein die Barriere des Todes nicht durchdringen konnte. Es gab daher nichts, was der subjektiven, zeitlichen Endgültigkeit seines Todes den Schrecken nehmen hätte können. Da er aber schon zu Lebzeiten eins war mit dem Geist, wußte er, daß ihn im Tod etwas viel Größeres erwartete, wenn er frei würde von den Schranken, die der Körper dem Bewußtsein auferlegt.
Seine Schüler aber stürzte sein Tod in einen Abgrund tiefster Verzweiflung. Das Ende ihrer Welt war gekommen. Da war kein Platz mehr für Abgrenzung und Stolz, denn alle Sicherheiten zerbrachen. Doch gerade da fanden sie, am Grund ihrer Existenz, überraschende Geborgenheit. Als alle Kontrolle wegfiel, weil sie keine Wahl mehr hatten, erwachte in ihnen - »der Menschensohn«, d.h. sie erwachten zu ihrer Ganzheit. Und in ihr erkannten sie, daß ihr Meister aus seiner Ganzheit heraus für ihr Erwachen den Preis seines Lebens gezahlt hatte. Und sie sahen, daß ihre Ganzheit in der seinen und seine Ganzheit in der ihren eingeschlossen war und daß das der »Christus« ist, der lebendig ist und bleibt »von Äon zu Äon« für sie und für alle, die bereit sind, ihn wecken zu lassen.
Und so ist aus einer Todesnachricht »die« frohe Botschaft geworden, die Botschaft von der Auferstehung. Und alle, die

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dem Weg dieser Botschaft folgten, gelangten selbst an den Grund ihres Seins und erlebten da ihre Neugeburt. Am Boden des Abgrunds, den sie zuvor nicht zu überspringen gewagt hatten, fänden sie jetzt ihr Einssein und in ihm die Kraft, die alles Erkennen übersteigt. Und damit war jeder weitere Sprung in die Ungewißheit auch für sie keine Frage mehr.
 
 


Der Zeitpunkt der Auferstehung Jesu



Sofern man in dem Zusammenhang überhaupt von einem Zeitpunkt sprechen kann, weil es sich ja um ein »Ereignis« im Ewigen handelt, so ist die eigentliche Auferstehung und Neugeburt Jesu längst vor seinem Tod geschehen.
Die Christen glauben ja, daß Jesus ohne »Erbsünde«, also ohne »gut« und »schlecht« unterscheidende Vorstellungswelt, ohne separierendes »Ich«, zur Welt gekommen ist. Er hatte das Paradies demnach nie verloren, er war vom ewigen Leben nie getrennt, sein inneres Wesen war nie zugedeckt und er brauchte nicht wiedergeboren werden. Aber auch wenn jemand in Jesus eine persönliche Entwicklung annimmt, in deren Verlauf der Menschensohn aus dem Ewigen in ihm die Führung übernommen hat, so ist seine persönliche und leibliche Auferstehung auf jeden Fall bereits vor seinem Tod am Kreuz erfolgt.
Das Bild von seiner Auferstehung und Himmelfahrt nach seinem Tod bezieht sich also nicht auf ein Geschehen aus der Sicht Jesu, sondern aus der Sicht der Jünger. Sie sahen ihn (erst) jetzt in seiner ganzen Herrlichkeit - und lebendiger als je zuvor.
Die Erzählungen von der Auferstehung Jesu beschreiben daher nicht ein Ereignis der alltäglichen Wirklichkeit, sondern einer anderen Wirklichkeit, die nach außen hin aber in Erscheinung trat als das Erleuchtungserlebnis der Apostel und Jünger, als deren Übertritt von dieser Welt in jene Welt. Weil sie jetzt dort waren, konnten sie das ewige Leben Jesu sehen. Sie sahen ihn

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in seiner vollkommenen Übereinstimmung mit seiner Natur, mit seinem Schicksal, mit JAHWE. Und der Jesus, den sie da sahen, war für sie so real wie noch nichts zuvor real gewesen war.
Aber so real für sie Jesus auch da war, was sie als »seine« »Auferstehung« beschrieben, ist nicht das persönliche und subjektive Erlebnis Jesu, sondern es ist ihr Erlebnis: Pädantisch betrachtet, ist seine Auferstehung daher auch nicht seine, sondern ihre Auferstehung!
Bei der »Auferstehung Jesu« geht es also keinesfalls um die Wiederbelebung und das Verschwinden seiner Leiche, sondern es geht darum, daß sich das Grab öffnete, in dem der »Christus« in den Aposteln eingeschlossen war. Es geht um das Erscheinen des Menschensohns, um das volle Erwachen der mit dem Ganzen verbundenen menschlichen Geist-Natur in den Aposteln.
Dadurch, daß etwas in ihnen sich öffnete, konnte der Geist, aus dem heraus Jesus gelebt hat, jetzt in ihnen erscheinen und erst damit ist Jesus wirk-lich auferstanden. Aber auch in uns kann dieses Etwas sich öffnen und das geschieht in dem Moment, in dem wir wirklich begreifen, was da geschehen ist. In diesem Augenblick erscheint der Menschensohn auch heute wieder in dieser Welt.
Und auch die Kirche bestätigt, daß der »Christus« in diesem Sinne nicht nur einmal auferstanden ist, sondern daß er immer wieder aufersteht, wenn sie in jeder Osternacht in dem alten Ritual zur Taufwasserweihe bittet: »Mache zahlreich die Wunder deiner Wiedergeburt!«
Der Jesus, den die Apostel nach seinem Tod sahen, war also weder eine äußerliche Erscheinung noch eine Halluzination. Sie sahen tatsächlich den Jesus, der gekreuzigt wurde, und sie sahen ihn als Auferstandenen. Aber sie konnten ihn nicht deshalb sehen, weil er in ihre zeitgebundene, alltägliche Wirklichkeit zurückgekehrt wäre, sondern sie konnten ihn sehen, weil ihre Wahrnehmung sich öffnete in eine andere Dimension, in die Dimension des Ewigen, in der einige von ihnen Jesus bereits

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vor seinem Tod als Auferstandenen sehen hatten können, zusammen mit Mose und Elia (Mt 17, 3). Die anderen aber, die keinen Einblick hatten in die Dimension des Ewigen, konnten den Auferstandenen auch nach der »Auferstehung« nicht sehen. Das bezeugt der Evangelist Matthäus, wenn er sagt, daß »einige zweifelten« (Mt 28, 17).
Nocheinmal: Jesus ist am Kreuz gestorben. Mit seinem Tod hat er den Bereich des Zeitlichen endgültig verlassen. Subjektiv, vom menschlichen »Ich« der historischen Person Jesu aus betrachtet, ist er zum Zeitpunkt der »Auferstehung« nicht »wieder«-gekehrt. Er war und ist im Reich des Ewigen. Nur bei seinen Jüngern hat sich etwas verändert. Durch den Schock seines Todes konnte ihre Aufmerksamkeit in den Bereich des Ewigen vordringen. Und da »sahen« sie ihn lebendig.
Weil das aber für diejenigen, die noch keinen bewußten Kontakt hatten mit der Sphäre des Ewigen so schwer nachzuvollziehen ist, sagt man in der Sprache des Zeitlichen, Jesus sei »auferstanden«. In dieser Sprache »ist« er seinen Jüngern erschienen und er hat ihnen Dinge mitgeteilt. Und tatsächlich wußten die Jünger jetzt, was sie vorher nicht verstehen hatten können, weil sie das Leben erst jetzt aus der Perspektive betrachten konnten, von der aus Jesus es gesehen hat: eben aus der Perspektive des Ewigen, aus der Perspektive des ganzen Menschen, aus der Perspektive JAHWE's.
Aber auch noch auf andere Weise reicht die »Auferstehung Jesu« in den Bereich des Zeitlichen hinein und auch in diesem Sinn geht ihre »Realität« weit über das »Sehen« hinaus: Indem die Jünger nämlich Zugang bekamen zum Bereich des Ewigen, ist ihnen das Wesen Jesu, »der Menschensohn«, nicht nur voll zum Bewußtsein gekommen, sondern »der Menschensohn« ist in diesem Moment wirklich wieder im Bereich des Zeitlichen erschienen und zwar leibhaftig - in ihrer Gestalt. Krass ausgedrückt: Obwohl Jesus wußte, daß es nach seinem Tod keine persönliche Zukunft für ihn geben würde, daß der

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zeitliche Aspekt seiner subjektiv-individuellen Existenz endgültig beendet sein würde, hat er diesen Tod akzeptiert.
Im Ewigen lag die Quelle seines Lebens. Von da her kam seine Kraft von Anfang an. Und als von dort her sein Tod not-wendig wurde, hat er sich ihm nicht entzogen. Er folgte ganz bewußt nicht der zeitlich-beschränkten Unterscheidung zwischen »gut« und »schlecht«. Er lebte aus dem Ewigen - stets »eins mit dem Vater« und gleichzeitig ganz bei sich selbst. Und so hat er schon zu Lebzeiten erfahren, »was Gott denen bereitet, die ihn lieben«;
Sich selbst zu erkennen im Angesicht Gottes als »Sein« Ebenbild (s. 1 Kor 13,12).
Und als das hat er sich auch für uns erwiesen. Sein Beispiel berührt uns an dem »Ort«, wo auch wir Ebenbild des Schöpfers sind. Da schwindet unser eingebildetes »Ich« und seine Vorstellungswelt. Da erwachen wir zum Bewußtsein unserer ewigen Natur. Und da finden wir alles, was je war und ist und sein wird und uns selbst im Grund als den ursprünglichen »Menschensohn«, »gezeugt, nicht geschaffen«.
 
 


»Ewiges Leben« —jenseits des Klischees




Was Jesus gesagt und getan hat, setzt unsere gewohnte Vorstellungswelt außer Kraft. Es zeigt uns, daß »ewiges Leben« etwas ganz anderes ist als auf einer himmlischen Wolke >Hallelujah< singen - nämlich Leben in Einheit mit der spontanen, göttlichen Kraft.
Durch den Sündenfall haben wir das Ewige aus den Augen verloren. Trotzdem aber bleibt es die bestimmende Kraft unseres Lebens und eine unstillbare Sehnsucht drängt uns dazu, die Verbindung wiederzubeleben. Wir spüren diese Sehnsucht als ein Sollen und zutiefst Wollen: nämlich nicht uns selbst zu suchen, sondern zu folgen - und zwar nicht Gesetz oder Moral, sondern eben unserer ureigensten, subtilen, »ewigen« Ordnung.

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Das ist das Zentrale, auch bei Jesus. Seine Bergpredigt ist daher keine Moralpredigt und auch keine Supermoral-Predigt. Sie zeigt uns einfach unsere jenseitige Natur. »Selig die Trauernden, denn sie werden getröstet werden« (Mt 5,4) zum Beispiel. Weil der Mensch ein Ebenbild Gottes ist, haben die echt Trauernden (im Gegensatz zu den Trotzigen oder den Ärgerlichen) diese eigenartige Anziehungskraft. Sie ziehen den Trost an. Und genauso zieht der Verletzte den Retter an - wenn der Retter nicht blockiert ist durch Vorstellungen, wie der Priester und der Levit im Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Man könnte sagen, es sei ein Instinkt, aber es ist etwas noch viel Ursprünglicheres. Es ist der ewige Rhythmus des Geists - »der die Berge abträgt und die Täler auffüllt« (Jes 40,4).
Alles, was ist, jedes Lebewesen, hat so etwas wie ein »Organ«, mit dem es diese ewige Ordnung in der Zeit spüren kann als den eigenen, ja den ureigensten Rhythmus. Alles in der Natur folgt der Resonanz dieses Rhythmus von Anziehung und Abstoßung — jedes Element in seiner Eigenart. Das ist die echte Spontaneität. Durch sie hat sich die ganze Fülle des Lebens entwickelt bis herauf zur Komplexität des Menschen.
Für Jesus hatte das natürliche Empfinden von Anziehung und Abstoßung und für die Resonanz seines Tuns absoluten Vorrang vor jeder statischen Auslegung des Gesetzes. Deshalb hat er bei den religiösen Führern Anstoß erregt. Aber deshalb ist er »der Menschensohn«, der eins ist mit dem Vater. Und deshalb predigt er keine Moral, sondern Spontaneität: das Sich-Bewegen-Lassen von der wahr-genommenen Kraft, weil »der Vater« die Welt schon so eingerichtet hat, daß jedes Wesen genau zu der Bewegung, die jetzt not-wendig ist, auch jetzt gedrängt wird.
Im Jetzt ist alles da. Im Jetzt gibt es keine Zeit, im Jetzt ist Ewigkeit. Und da lebte Jesus. Und auch sein Tod unterbrach sein da-Sein nicht, denn Jesus hielt nicht fest an seiner historischen Erscheinung. Noch im Tod zeigt er uns, daß »ewiges Leben« einfach bedeutet, jetzt in der Wahrheit zu sein!

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Sein ganzes Leben lang war er im ewigen Leben, und auch jetzt ist er da, mitten unter uns, in seiner ganzen Lebendigkeit. Und wenn wir bereit sind für die Wahrheit jenseits aller Vor-Stellungen werden wir ihm begegnen, wie damals die drei Apostel auf dem Berg Tabor Mose und Elia und eben diesem ewigen Jesus begegnet sind.
Das Ewige ist immer schon da und deshalb erscheint vor unserem Bewußtsein schon immer alles, was für uns von Bedeutung ist, im richtigen Moment. Nur unsere Vorstellungen halten uns fest in der Vergänglichkeit. Wenn wir sie loslassen und auf das vertrauen, was uns im Moment gegeben wird, öffnen sich die Schranken der Wirklichkeit und wir finden uns im Unendlichen und Ewigen.
Und da sind wir Ebenbild Gottes: Ebenbild des Vaters, von dem unser Leben stammt; und Ebenbild des Sohnes, unserer »jenseitigen«, ewigen Natur, die uns zur Erlösung führt; und auch Ebenbild des Geists, der alles scheinbar chaotisch bewegt und der es gleichzeitig doch so lenkt, daß er/sie/es sich vollkommen entfalten kann, so, daß Gott selbst leibhaftig in Zeit und Raum erscheint - in unserer Gestalt: »... und der Logos ist Fleisch geworden« (Joh l, 14).

Wer das Ewige so noch nicht bemerkt hat, kann es rückblickend am Werk sehen an den Schlüsselstellen der eigenen Entwicklung. An diesen Stellen nämlich ist die prägende Wirkung der zeit- und kulturgebundenen Kräfte auf unsere Persönlichkeit aufgehoben und etwas anderes hat die Führung, eben der Mensch aus dem Ewigen und der macht den evolutionären Sprung möglich.
Und gleichzeitig sehen wir bei dieser Betrachtung, wie aus den Einflüssen, die entfremdend wirksam waren, unser individueller Lebens-Auftrag entsteht, und vor allem, daß wir die Auseinandersetzung mit dem Übel brauchen, damit wir endlich nicht mehr unseren Vorstellungen folgen, sondern dem, was jetzt da ist - wohin es auch führt.

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Das hat uns Jesus vorgelebt. Sein Beispiel weckt in uns den Keim des neuen Menschen und es nährt ihn. Er ist »das Wasser des ewigen Lebens« (Joh 4, 14).
 
 
 

 
 

Meditation und Übungen zum Thema »Ewiges Leben«

 

Meditation

»Wenn ihr euch nicht umwendet und werdet wie die Kinder kommt ihr nie hinein ins Reich der Himmel« (Mt 18, 3). »Das Reich Gottes kommt nicht unter Überwachung und man kann auch nicht sagen >hier ist es!< oder >dort!<, denn es ist mitten in euch« (Lk 17, 20f).

Das Reich der Himmel ist der Bereich des ewigen Lebens. Und das ewige Leben ist nicht irgendwo anders und es beginnt auch nicht zu irgendeiner anderen Zeit. Es ist jetzt hier, »mitten in uns« (Lk 17, 21). Erleben können wir es aber nur, wenn wir unsere Vorstellungen nicht mehr in seinen Weg stellen, wenn wir uns wieder hineinwagen in seinen Fluß, wenn wir wieder werden wie Kinder.

Setz dich gerade hin und laß dich innerlich zur Ruhe kommen, indem du einfach nur auf deinen Atem achtest, wie er ein- und ausgeht.

Bleib nun mit deiner Aufmerksamkeit bei deinem Atem, denn in ihm bist du bereits jetzt verbunden mit dem ewigen Leben. Wenn du davon noch nichts bemerkst, ist das, was dir fehlt, dennoch nicht das ewige Leben, sondern nur die Wahrnehmung davon. Deshalb achte auf deinen Atem:
Du mußt nicht etwas tun, um zu atmen. Wenn du etwas tun müßtest, wärst du schon lange tot. Genausowenig müssen die Elektronen etwas tun, um um den Atomkern zu schwirren und

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auch die Atome müssen nichts tun, um sich mit anderen Atomen zu verbinden. All das geschieht von selbst. Die ganze Natur ist auf diese Weise von selbst entstanden und du auch. Niemand mußte etwas tun. Die ersten, die etwas taten, waren die Menschen und ihr Tun war ihr Sündenfall. »Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen« (Gen 3, 19), heißt es von da an.
Mit dem Tun kommt die Plage. Die Inder sagen daher, daß alles Tun neues Karma schafft und daß die Erlösung darin besteht, nicht mehr zu »tun«. Das heißt natürlich nicht, daß Erlöste nur noch im Bett liegen und sich von anderen versorgen lassen, sondern sie haben diese andere Art des Handelns wiederentdeckt, das von selber geht.
Das hat auch Jesus angesprochen am Jakobsbrunnen in Samaria, wo er zu einer Frau sagt:

»Jeder, der von diesem Wasser trinkt, wird wieder durstig werden,
wer aber von dem Wasser trinkt, das ich ihm geben werde,
wird in dieser Zeit nie mehr dürsten,
sondern das Wasser, das ich ihm geben werde,
wird in ihm zu einer Quelle von Wasser werden
und ins ewige Leben sprudeln«.
Die Frau sagt zu ihm:
»Herr, gib mir dieses Wasser, damit ich nicht mehr dürste
und nicht mehr hierher kommen muß, um zu schöpfen.« (Joh 4, 13f).

Die Samariterin meint, wie auch wir oft meinen, das ewige Leben müßte eine Art Schlaraffenland sein. Aber das ist es natürlich nicht. Rein äußerlich unterscheidet es sich kaum von diesem vergänglichen Leben, nur die Art des Handelns ist eine andere.
Betrachte dein eigenes Leben. Da gibt es das Tun, das dir schwerfällt und dann gibt das, das von selbst geht. Wie unterscheiden sich die beiden Arten des Tuns? Wenn du dich »im Schweiße deines Angesichts« arbeiten fühlst, dann kann das zwei Gründe haben. Entweder du hast dir etwas

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ausgerechnet, das du unbedingt erreichen willst, obwohl etwas anderes in dir gar kein Interesse daran hat oder die Anstrengung stört dich, weil du deine Tätigkeit mit Tätigkeiten vergleichst, bei denen du dich nicht anstrengen mußt. Zu anderen Zeiten aber stört dich dein Schweiß keineswegs. Da tust du nichts Ausgedachtes und du stellst auch keinen Vergleich an, sondern du bist ganz in dem, was du tust. In dem Unterschied zwischen den beiden Arten des Handelns liegt der Schlüssel zum ewigen Leben. Was dich hinauswirft aus dem Paradies, hinein in die Plage, ist dein ständiges Vergleichen, dein Urteilen über gut und schlecht, dein Denken. Durch das Denken ziehst du dich selbst heraus aus dem bewußten Dasein im Moment, in dem allein das ewige Leben zu finden ist. Laß es daher sein. Werde wieder Kind.
Kleine Kinder sind immer ganz da, im Moment, solange sie durch unsere Erziehung noch nicht verdorben sind. Von selbst lernen sie laufen und sprechen, von selbst kommt alles, was sie tun. Betrachte das, was die Kinder lenkt, und finde es jetzt auch in dir.
Erinnere dich an Situationen, in denen du wie ein Kind, ohne Denken und Vergleichen wußtest, was in einem bestimmten Moment das Richtige war. Wenn du ehrlich bist, wirst du feststellen, daß du es auch jetzt noch weißt, wenn auch nur für einen Moment, bevor dann die Gedanken kommen, die dich an die tausend Rücksichten auf die Mächte erinnern, vor denen du dich fürchtest und denen du dich unterworfen hast. Jetzt aber nimm dir Zeit und rufe das Lebensgefühl der Momente wach, in denen du ganz eins bist mit dem, was du tust.

Dann kehre zurück zu deinem Atem und laß dich von ihm noch tiefer hineinführen in den Bereich des Lebens, in dem alles von selber geht. Spüre ihn als die ständige Brücke zwischen deinem Bewußtsein und diesem allzeit gegenwärtigen und doch verborgenen ewigen Leben.

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Übung: Gyo-ki

Eine sehr überraschende Verbindung mit dieser anderen Art des Wahrnehmens und des Handelns kann dir eine kleine Übung vermitteln, die ich von Shinmei A. Kishi übernommen habe. Er nennt sie »Gyo-ki«, d.h. Ki-Praxis. »Ki«, im Chinesischen »Chi«, ist so etwas wie das Sammelbecken der in einem bestimmten Moment auf einen bestimmten Punkt wirkenden Kräfte.

Setze dich gerade hin und laß dich zur Ruhe kommen. Damit du nicht zu sehr von Gedanken abgelenkt wirst, kannst du im Hintergrund leise meditative Musik laufen lassen. Dann hebe deine Hände in Brusthöhe, die Handflächen zueinander gewandt in einem Abstand, der sich richtig anfühlt, vielleicht 10, vielleicht 50 cm.
Spüre zuerst die Wärmeausstrahlung deiner Hände und dann diese gewisse Spannung zwischen den Handflächen. Vielleicht ist es für dich wie Magnetismus oder wie ein elektrisches Feld in einem Kondensator oder auch wie eine Art Strahlung. Es ist die Art Energie, mit der Heiler umgehen, wenn sie ihre Hände auflegen. Aber hüte dich davor, diese »Energie« zu benennen. Schon das Wort »Energie« ist zu viel. Spüre es einfach nur, was immer es sein mag.
Und dann spüre, wie sich deine Hände ganz von selbst kaum merklich bewegen.
Niemand kann ja ganz stillhalten. Achte eine Weile auf diese kleinen Bewegungen. Und dann erlaube deinen Händen, sich mehr zu bewegen, genau so wie es von selbst kommt, und du wirst sehen, daß sie sich in bestimmte, ständig wechselnde Richtungen bewegen. Falls du den Kontakt zu dieser Bewegung verlierst, bleib stehen und warte, bis er wiederkommt.
Du kannst nun ein wenig experimentieren und sehen, wie sich Richtungen anfühlen, die du dir selbst ausdenkst, und du wirst feststellen, daß sich die Hände in bestimmte Richtungen schwerer bewegen lassen als in andere und daß ihnen eine Richtung

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immer leichter fällt als alle anderen. Folge dieser Richtung und du wirst erleben, wie eine Art spontanes Tat Chi entsteht. Tu das jetzt für eine Weile und werde eins mit deiner spontanen Bewegung, vielleicht 15 Minuten lang.
 

Übung: erweitertes Gyo-ki

Wenn du der ersten Übung gefolgt bist, dann hast du jetzt schon ein klares Beispiel für den Unterschied zwischen der Bewegung, die aus dem Denken kommt und der Bewegung, die der Kraft folgt.
Das ewige Leben ist mit dieser Kraft verbunden, es kommt aus dieser Kraft, es ist diese Kraft. Die sich ständig verändernde Bewegung zeigt dir, daß du sie nicht festhalten kannst und du siehst auch, daß es nichts zu erlernen gibt, sondern nur zu verlernen. Du bekommst auch nichts, wenn du das ewige Leben entdeckst, vielmehr muß etwas wegfallen, nämlich das, was deinem Kontakt mit dem ewigen Leben im Wege steht: Du selbst und die Welt, mit der du dich identifizierst.
Nimm dir jetzt noch einmal wenigstens 15 Minuten Zeit für die zweite Übung. Vielleicht ist dir bei der ersten Übung schon aufgefallen, daß sich da noch mehr bewegen möchte als nur die Hände. Vielleicht haben deine Hände bereits deinen Oberkörper mitgezogen, vielleicht hat sich auch dein Kopf mitbewegt, vielleicht bist du auch aus dem Gleichgewicht gekommen und umgefallen. Bei der zweiten Übung laß nun all das ganz bewußt zu. Für diese Übung brauchst du mehr Platz, wenigstens den Umkreis deiner Körperlänge. Die Bewegung ist eher langsam, daher stören feste Hindernisse nur wenig. Alles Zerbrechliche aber räume aus dem Weg und lege alles Einengende ab, auch Schmuck, Uhr etc..
Beginne nun wie vorhin mit den Händen und laß dann die Bewegung deinen ganzen Körper erfassen.

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Übung: Im Fluß des ewigen Lebens auf andere zugehen

Für diese Übung brauchst du eine Gruppe von Leuten, die die Übung gemeinsam machen wollen. Jeder Teilnehmer muß bereit sein, sich der Wahrheit des Augenblicks zu öffnen und das sich Öffnen der anderen zu respektieren. Wiederhole diese Übung daher nicht gleich bei der nächstbesten Party aus Begeisterung über die erstaunliche Wirkung deines ersten Versuchs. Denke an den Schutz, den dir die gemeinsame Intention gewährt, sonst könntest du in deinem Bemühen, dich der Wahrheit zu öffnen einen empfindlichen Rückschlag erleiden.
Bevor du dich von der Stelle bewegst, stimme dich meditativ auf die Gruppe und ihre Mitglieder ein und suspendiere alle Vorlieben und Vorurteile. Intensives Tanzen kann allen in der Gruppe helfen, sich von ihren Gedanken und Urteilen zu lösen. Das gilt auch für die vorangegangenen Übungen. Wenn eine Gruppe diese Übung zusammen macht, sollten sich daher zunächst alle für eine Weile einfach von Musik bewegen lassen.
Zu Beginn der Übung stehst du dann mit geschlossenen Augen und stimmst dich ein auf den Raum und die Menschen darin. Mit fast geschlossenen Augen, die Hände als Antenne und Wahmehmungsorgan benutzend, wie ein Schlafwandler, gehst du dann los und bei jeder Begegnung spürst du, ob du angezogen oder abgestoßen wirst. Wenn du von jemand angezogen wirst, läßt du nun wieder deinen Händen die Führung und bald wirst du sehen, ob deine Anziehung auf Gegenliebe stößt und ob du dich eingeladen fühlst zu bleiben oder ob du dich lieber weiterbewegst. Schon bei dieser Erkundung kannst du deinen ganzen Körper agieren lassen, wie bei der vorangegangenen Übung; nur dem Denken solltest du nicht erlauben, sich einzumischen.
Es kann sein, daß nun schnell ein sehr intensiver Kontakt entsteht, der vielleicht anhält, wenn die Übung vorbei ist, der vielleicht aber nur von kurzer Dauer ist. Wenn du in so einem

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Fall nach der Übung erneut auf diese Person zugehst, zu der du tiefen Kontakt hattest, in der Annahme, der Kontakt müßte noch da sein, kannst du eine herbe Enttäuschung erleben, denn etwas, das in einem Moment wahr ist, kann im nächsten Moment schon völlig verkehrt sein. Du mußt also jeden Moment neu spüren — so wie die Kinder es auch tun, die sogar Vater Mutter und Geschwister manchmal zutiefst hassen und im nächsten Moment wieder heiß lieben. Das ist nicht ein Fehler, sondern es ist einfach die Wahrheit. Das ewige Leben ist eben ständig im Fluß und völlig unberechenbar. Und es gibt nur einen Zugang zu ihm: das Spüren der im Augenblick wirkenden Kraft.
 

Übung: Ewiges Leben im Alltag

Diese Art des Handelns aus dem unmittelbaren Spüren solltest du dann im Alltag üben. Dazu mußt du es unterscheiden lernen vom Handeln aus Vorstellungen. Und dazu wieder mußt du deinen Blick abwenden vom Ergebnis deines Handelns, das in beiden Fällen angenehm oder unangenehm sein kann.
Wir alle wollen ja vorhersehen und verhüten und deshalb haben wir Angst vor dem ewigen Leben und seiner Unberechenbarkeit. Unsere ganze Vorstellungswelt dient dazu, uns vor ihm zu schützen. Wenn wir es aber dennoch erreichen wollen, müssen wir unser Bewerten und Berechnen aufgeben und wir müssen lernen, auch den Schmerz und das Unangenehme und auch das Unvorstellbare auszuhalten. Dadurch erst werden wir fähig, das Echte vom Unechten zu unterscheiden und das im Hier und Jetzt Gegebene voll zu akzeptieren. Erst dann steht dem Fluß des ewigen Lebens nichts mehr im Weg.

Bevor du auf diese Weise deinen Alltag betrachtest, laß dich innerlich zur Ruhe kommen. Achte für eine Weile nur auf deinen Atem, ohne ihn zu beeinflussen.

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Dann betrachte aus dieser Ruhe heraus dein alltägliches Leben. Erlaube dir den Blickwinkel dieser anderen Instanz in dir, die du mit dem Echten verbunden weißt. Aber erschrick nicht! Du könntest dem Teil von dir begegnen, den du gewöhnlich verdrängst. Wir alle haben ja diesen Aspekt, einem Monster ähnlich, solange wir noch nicht endgültig wiedergeboren sind aus dem Geist. Oscar Wilde hat diesen Aspekt so meisterhaft beschrieben in seinem »Bildnis des Dorian Gray«. Er ist das Ergebnis unseres Handelns aus Vorstellungen. Sei dankbar, wenn du ihn an dir sehen kannst, aber identifiziere dich nicht damit. Laß ihn los und schau auf die andere Seite, auf deine Verbindung zum Ewigen. Sie ist ja genauso da! Laß sie erscheinen. Sieh dich selbst, wie du den gleichen Situationen, die dich in der Vergangenheit deformiert haben, jetzt aus dem Ewigen heraus begegnest. Sieh dich selbst im Wunder deiner Neugeburt aus dem Geist. Und das immer wieder, in immer neuen Anläufen, so lange bis du dich ganz gelöst hast von der Sklaverei deiner Vorstellungen.

Wenn du dein Leben auf diese Weise eingehend betrachtet hast, kehre zurück zu deinem Atem. Erlaube ihm, ganz von selbst zu fließen. Laß deine Vorstellungswelt mit jedem Ausatmen entweichen. Sieh deine Verbundenheit mit dem ewigen Leben in jedem Wendepunkt des Atems. Und jedes Einatmen laß deine Kraft erneuern, mit diesem Prozeß weiterzugehen.

Und dann im Alltag, wenn eine alte Schwierigkeit erneut auftaucht, erinnere dich an das Wunder, das du gesehen hast. Laß seinen Geist erscheinen. Mach dich frei für ihn und folge ihm.

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